Dr. Laura Méritt – Sexualität und Sexuelle Rechte

Die Mehrheit aller Menschen wird durch Sex generiert, auch durch künstliche Befruchtung entsteht neues Leben. Wir werden als sexuelle Wesen geboren und praktizieren Sex zur Lebensfreude, Entspannung und Gesundheit, weitaus häufiger und vielfältiger als zur Fortpflanzung. Und obwohl Sex allgegenwärtig ist und die Darstellung von Sex als Populärkultur gilt, unterliegt die Auseinandersetzung mit Sexualitäten traditionsbedingt einer Zensur- und Beschämungskultur, die bei aller Aufgeklärtheit bis heute fortwirkt. Noch immer konzentriert sich Aufklärung in der Regel auf Fortpflanzung und Verhütung und lässt die lustvollen Aspekte unausgesprochen. Dabei ist Sexualität für viele Menschen nicht nur ein wichtiger Aspekt des Lebens und eine Art, sich auszudrücken, sondern ein Grundbedürfnis.

Sex kann sehr unterschiedlich ausgeführt werden, durchaus positiv und freudenvoll erfolgen und bestärkend wirken. Das fühlt sich dann gut an, entspannt, macht glücklich und zufrieden. Sex kann Energie geben und Optimismus einflössen. Botenstoffe und Hormone wie Endorphine, Serotonin und Oxytocin werden ausgestoßen. Sie helfen beim Einschlafen, bauen physischen und psychischen Stress ab. Sie lindern Schmerzen, senken den Blutdruck, stärken das Immunsystem und Beziehungen zu sich selbst und anderen. Beim Sex können Emotionen hochkommen und wir können weinen oder { und } lachen und uns unserer Gefühle bewusst werden. Sex erlaubt, sich aus dem Alltag herauszunehmen, völlig losgelöst zu schweben und sich mit dem Universum eins zu fühlen. Manche fühlen sich selbst und nehmen sich als eine ganzheitliche Person wahr, sie sind mit sich selbst verbunden.

Andere genießen die Verbindung und Liebe zur Sexpartner:in oder zu mehreren Partner:innen. Das alles hängt stark davon ab, was wir an Gefühlen, Vorstellungen, Bildern etc. zulassen bzw. wie offen wir sind. Sex kann als physischer Spannungsabbau verstanden und genossen werden oder als (hoch-) energetische oder gar mystische Erfahrung. Es kommt stark darauf an, wie wir sexuell und kulturell sozialisiert sind und welche Aufmerksamkeit wir dem schenken. Das betrifft auch verschiedene sexuelle Ausrichtungen oder Präferenzen.

Um angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, braucht es auch einen gesellschaftlichen, sexpositiven Rahmen und einen Zugang zu Aufklärung und Informationen. Allein die Definition von Sex oder Sexualität ist äußerst vielfältig und differenziert sich immer weiter aus, wenn einmal die normierende Penetrationspraktik (mit einem Penis) als nur eine Option aufgefasst wird. Sex kann in Gedanken und Fantasien stattfinden, in Worten und Dialogen, in Rollenspielen oder BDSM-Praktiken, als Erleben mit der Natur oder Sensibilisierung für erregende Energien. Wie auch immer die Beschreibung und Ausführung ausfällt, sie sollte Achtsamkeit und ein Miteinander-Kommunizieren beinhalten und frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt sein.

Jede Person hat das Recht, selbstbestimmt Sexualität zu leben und dabei gleich berechtigt behandelt zu werden (unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Alter, Gesundheitszustand oder sexueller Orientierung).

Diese sexuellen Rechte stehen im deutschen Grundgesetz und leiten sich von den Menschenrechten ab. Über den eigenen Körper zu bestimmen und aussprechen zu können, welche körperlichen Berührungen zugelassen werden und welche nicht, ist Grundlage für sexuelle Gesundheit, laut WHO „das körperliche, emotionale, mentale und soziale Wohlbefinden in Bezug auf Sexualität“.

Um selbst bestimmen zu können, was gut tut, braucht es zunächst Informationen und Aufklärung und dann auch Möglichkeiten, die Vielfalt in einem sicheren Rahmen auszuprobieren, beispielsweise bei einer Sexarbeiterin. Informationen und Austausch über Sexualität gibt es aber immer noch viel zu wenig. Nicht nur dass in den Anatomie- und Medizinbüchern z. B. der Klitoriskomplex immer noch mangelhaft und nicht vollständig abgebildet ist. Das Wissen über rein physische Zusammenhänge und das Zusammenwirken der Sexualorgane, besonders der weiblichen, ist den wenigsten bekannt. Ob weibliche Ejakulation, Schwellgewebe, Drüsen, nicht existierendes Jungfernhäutchen u.v.a. oder auch Massage- und Entspannungstechniken und das oben genannte sexuelle Wohlbefinden steigernde Praktiken, sexuelle (Weiter-) Bildung ist extrem wichtig und noch weitgehend unterrepräsentiert.

Miteinander Reden, sexuelle Kommunikation, Aushandeln ist ein weiteres wichtiges Element, um selbstbestimmt entscheiden zu können. Einen zufriedenstellenden Konsens herzustellen erfordert auch, dass Bedürfnisse formuliert und deren Erfüllung auch abgelehnt werden können, insofern rücksichtsvoll miteinander umgegangen wird. Das bedarf der Übung. (Sexarbeitende kennen sich im Verhandeln sehr gut aus und können dies vermitteln.)

Die sex-positive Bewegung und Sexuelle Bewusstseinsstärkung

Dass überhaupt über Sexualität gesprochen wird und diese nicht mehr als reiner Pflichtakt oder als „Geschlechtsverkehr“ betrachtet wird, sexualisierte Gewalt strafbar ist und ein Einverständnis zum Wohlsein aller Beteiligten beiträgt, das alles ist auch auf feministische Forderungen zurückzuführen.

Die ehemals unantastbare machtvolle Sexualmoral ist zunehmend einer Verhandlungsmoral gewichen.

Dennoch wird noch viel zu wenig miteinander gesprochen, gerade im intimen Bereich existieren Scham und patriarchale Rollenerwartungen, die medial massiv befördert werden. Wertungen bezüglich sexueller Performance und Verurteilungen von sog. abweichendem Verhalten vor allem gegen Frauen, Sexarbeitende und ihre Kund:innen sowie Queere, Schwarze, BiPoc (steht für “Black, Indigenous and People of Color“) und Personen mit Behinderung sind noch stark verbreitet. Allerwichtigstes Ziel bleibt daher Aufklärung und sexuelle Bildung, wie es die Frauengesundheitsbewegung und der sexpositive Feminismus schon in den 1970ern in der Auseinandersetzung um Zensur formulierten. Er folgt Grundsätzen zur sexuellen Selbstbestimmung, die auf alle Sexualitätsdebatten übertragen werden können. Diese sehen den vielfältigen, einvernehmlichen Sex zwischen erwachsenen Personen als deren mündige Entscheidung an, ohne Einmischung oder Wertung von außen.

Im Evaluationsbericht des ProstG griff die Bundesregierung diese Leitsätze teilweise auf:

„Es ist nicht Aufgabe des Staates, Menschen vor den Folgen ihrer Lebensentscheidungen zu bewahren, die sie in freier Selbstverantwortung getroffen haben. Freiwilligkeit bedeutet im Zusammenhang mit dem sexuellen Selbstbestimmungsrecht, dass Individuen frei über das Ob, das Wann und das Wie einer sexuellen Begegnung entscheiden können.“

Die Ausrichtung auf sexuelle Bildung und sex-positive Angebote schaffen beste Bedingungen, um selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Dabei bleibt eine kritische Haltung gegenüber Normen und Definitionen von Sexualität wichtig, um auch den Hintergrund einer gesellschaftlichen Machtanalyse zu erfassen. Letztendlich ist das Ein treten für Vielfalt in jeder Hinsicht elementar, um einseitigen Vorgaben und Verboten oder diktatorischen Tendenzen entgegen zu treten. Die vielen Angebote an sexuellen (Dienst-) Leistungen, die als Vorträge, Seminare, Workshops, Sessions oder als kulturelle Veranstaltungen in Theater, Kino oder als Einzel-, Gruppenberatung u.v.m. existieren, stehen für eine demokratische Gesellschaft mit einer ausgesprochen positiven Sexualkultur. Sexuelle Bildung und Weiterbildung auf körperlicher, geistiger und emotionaler Ebene ist Arbeit an sich selbst und für das Allgemeinwohl.

Sex-positive Arbeit ist Friedensarbeit!



Dr. Laura Méritt – Sexologin und Kommunikationswissenschaftlerin – Berlin
Autorin und Herausgeberin des Standardwerkes zur weiblichen
Sexualanatomie „Frauenkörper neu gesehen“, Mit dem
Freudenfluss Netzwerk führt sie sexualpolitische Kampagnen
zur Etablierung einer sexpositiven Kultur durch.

www.sexclusivitaeten.de


 

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